Zitat aus der SZ vom 2.11.2022:
Im Moment stehen in zwei der großen Opernhäuser der Welt wichtige Personalentscheidungen an. Daniel Barenboim, 79 Jahre alt und bis 2027 der Musikchef der Berliner Staatsoper, hat gerade verkündet, dass er krankheitsbedingt die nächsten Monate nicht dirigieren kann. Und schon wird über seinen Nachfolger diskutiert. Der Intendant des Hauses, Matthias Schulz, befeuerte die Diskussion, indem er der Deutschen Presse-Agentur erklärte: „Daniel Barenboim hat selbst oft gesagt, dass man dauerhaft so einen Job nur mit ganzer Kraft machen kann. Deswegen wird es in den nächsten Wochen sicher weitere Gespräche geben.“
Auch an der Wiener Staatsoper gibt es Querelen um deren noch nie durch geniale musikalische Höhenflüge aufgefallenen Musikchef Philippe Jordan. Für Wien und Österreich ist Oper sehr viel wichtiger als für Berlin und Deutschland, sie ist dort eine Angelegenheit von weltgeschichtlicher Bedeutung. Deshalb wird die Causa Jordan auch mit sehr viel mehr Spektakel inszeniert als die Causa Barenboim. Unklar ist allerdings, ob Jordan seinen Vertrag nicht über 2025 verlängern wollte oder ob das der Staatsopernintendant Bogdan Roščić nicht wollte. Auf jeden Fall ist 2025 Schluss mit Jordan. Doch wer kommt dann?
Andere große Opernhäuser haben schon ganz ohne Lärm Nachfolger gefunden, es sind allesamt Männer. Das Royal Opera House in London hat sich gerade den 41-jährigen Jakub Hrůša gesichert, er wird in drei Jahren Antonio Pappano ablösen. Auf Christian Thielemann an der Dresdner Semperoper folgt 2024 Daniele Gatti, der gerade in Rom von Michele Mariotti beerbt wurde. Ruhe herrscht bei den übrigen Großinstitutionen, die Scala hat (noch) Riccardo Chailly, die Met den kaum strahlkräftigen Yannick Nézet-Seguin, München Vladimir Jurowski und die Pariser Opéra den wohl vor allem als musikalisches Aushängeschild eingekauften Gustavo Dudamel, mehr große Häuser gibt es nicht.
Außer Thielemann, Gatti, Chailly und Pappano ist keiner dieser Dirigenten älter als 50 Jahre. Es vollzieht sich ein Generationswechsel, von dem dezidiert nicht Dirigentinnen profitieren, obwohl es mit Joana Mallwitz, Mirga Gražinytė-Tyla und Oksana Lyniv Musikerinnen gibt, die auf dem Niveau ihrer Konkurrenten agieren. Aber der Klassikbetrieb bleibt konservativ und frauenfeindlich, manche Frauen scheuen den Schritt ins Rampenlicht. Das Weiter-so-wie-bisher in der Oper zeigt sich auch in den verkrusteten Spielplänen, den hohen Kartenpreisen, dem männlich dominierten Regiestil, der hierarchischen Führungsstruktur und dem Elitarismus. Gut möglich, dass das der Szene bald schon große bis unlösbare Probleme bereiten wird.
Es wird weitergemacht wie vor Corona: Nur Mann verkauft sich gut
Auch trotz der Epidemie und der seither zurückgegangenen Besucherzahlen, trotz der befürchteten Einbrüche wegen Ukraine-Krieg, Inflation und Energieknappheit, trotz eines sich rasant wandelnden Menschen- und Gesellschaftsbilds wird auf den Sängerbühnen weitergemacht wie vor der Seuche. Auch bei der Verpflichtung der Musikchefs. Da sind nicht nur die großen Häuser macho, auch bei den mittleren und kleinen gibt es kaum Chefdirigentinnen. Nur Mann verkauft sich gut. Ob das so bleiben kann?
Ein Chefdirigent muss für Musiker und Publikum ein Magier und Animator sein. Er muss eine Hundertschaft von Spezialisten dazu bringen, mehr und Besseres zu geben, als sie es sich selbst zutrauen. Wenn einem Dirigenten dieses Wunder gelingt, sind die Häuser voll. So sind die beiden von Christian Thielemann in Berlin dirigierten Zyklen des „Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner ausverkauft, bei Kartenpreisen bis zu 1100 Euro. Wem das zu teuer erscheint für vier Abende, dem sei versichert, dass ohne öffentliche Subventionen die Preise noch sehr viel höher wären. Für den dritten Berliner „Ring“-Zyklus mit dem von Barenboim geförderten 29-jährigen, aber nicht allzu bekannten Thomas Guggeis waren die teuren Karten noch zu haben. Prominenz zahlt sich eben aus. Während Christian Thielemann für viele der Favorit für die Nachfolge von Daniel Barenboim ist, wechselt Guggeis nächstes Jahr an die Frankfurter Oper.
Christian Thielemanns Wagner-Darbietungen haben Kultstatus
Wird also Thielemann der neue Chef in Berlin? Er ist einer der besten Dirigenten der deutsch-österreichischen Romantik, seine Wagner-Darbietungen haben Kultstatus. Er hat in den vergangenen Jahren ein paar Rückschläge einstecken müssen. Seine Verträge in Dresden, Bayreuth und bei den Salzburger Osterfestspielen wurden nicht verlängert, die Berliner Philharmoniker haben sich gegen ihn und für Kirill Petrenko entschieden. Zudem ist Thielemann nicht leicht in den auf Effizienz und Reibungslosigkeit getrimmten Opernmarkt integrierbar, immer wieder gab es deshalb Reibereien. Weshalb die Berliner Kulturbehörden und die zukünftige Staatsopernintendantin Elisabeth Sobotka jetzt die undankbare Aufgabe haben, das Für und Wider im Fall Thielemanns abzuwägen. Wenn Daniel Barenboim doch noch ins Amt zurückkehren würde, dann wäre diese leidige Frage vertagt.
Gibt es keine Alternativen zu Thielemann? Wie erwähnt wird 2025 Antonio Pappano frei, er ist im Gegensatz zu Thielemann ein Generalist. Sein leichter, allem Mystischen abgeneigter Stil dürfte den Freunden deutscher Tiefklanggrübelei suspekt sein. Und sonst? Von Frauen war schon die Rede, auch schon von Wien. Dort hatten es schon viele Musikchefs schwer, es gab Jahre ohne festen Musikdirektor. Das hat auch deshalb funktioniert, weil die meisten Staatsopernmusiker im Nebenjob als Wiener Philharmoniker mit den besten Dirigenten auftreten. Das steigert Ansprüche wie Selbstwertgefühl. Jedenfalls ist Wien, der Staatsoperndirektor agiert hier als der entscheidende Mann, als Modell so singulär, dass es für andere Häuser nicht herangezogen werden kann.
Das für seine grandiosen Programme bekannte Münchener Kammerorchester, das nur ganz selten Oper spielt, geht jetzt in der Chef-Frage eigene Wege, sie haben gleich drei Männer verpflichtet. Nun spielen Konzertensembles ein sehr viel breiteres Repertoire als Opernhäuser, aber die meisten Dirigenten sind keine Genies, denen Jean-Philippe Rameau genauso wunderbar gelänge wie Wolfgang A. Mozart, Ludwig van Beethoven, Johannes Brahms, Arnold Schönberg oder Olga Neuwirth. Da ist eine Viel-Chef-Lösung sinnvoll. Selbst die Münchner Staatsoper praktizierte das einmal ansatzweise mit dem fürs große Repertoire zuständigen Zubin Mehta und dem Barockzauberer Ivor Bolton.
Sogar die Münchner Philharmoniker, deren Chef Valery Gergiev es kürzlich kriegsbedingt nach Russland verschlagen hat, dürften diese Option bedenken, sie werden aber vermutlich die gängige Ein-Chef-Lösung wählen. Wird es hier eine Frau sein? Wird es der bisher gern von den großen Häusern übergangene, aber geniale Daniel Harding werden? Für berühmte Konzertorchester ist ein noch berühmterer Chefdirigent wichtig, weil nur der die begehrten Tourneen nach Asien garantiert. Eine Ausnahme scheint da das Amsterdamer Concertgebouw-Orchester zu machen, das gerade den 26-jährigen Klaus Mäkelä ab 2027 als Chef verpflichtet hat. Auch Mäkelä wird von vielen als Genie gehandelt, er ist bereits weltberühmt, seine Wahl durch dieses Orchester ist ein Coup.
An den Opernhäusern, vor allem in Wien, Berlin und Bayreuth, spielt zunehmend die Frage der Regie eine Rolle. Philippe Jordan hat der Zeitung Kurier erklärt, was ihn am heutigen Opernbetrieb stört, es ist ein altes Lied: „Dass unser Theater, was die Regie betrifft, seit langer Zeit einen fatalen Irrweg eingeschlagen hat.“ Unbeirrt würde der ausgetretene Weg des „dahinsiechenden deutschen Regietheaters“ weitergegangen. „Aber modernes Theater muss nicht notwendigerweise jedes Mal eine ästhetische Zumutung für das Publikum und sechs Wochen handwerklicher Dilettantismus für die Mitwirkenden sein.“ Jordan nennt leuchtende Gegenbeispiele: Wieland Wagner, Robert Wilson, Barrie Kosky, Cyril Teste.
Es gibt nicht viele Dirigenten, die sich gegen die Bilderfluten der Regie durchsetzen können
Die Sehnsucht nach Aufführungen, die nicht von Buhstürmen umtost sind und jedermann einleuchten, wird derzeit verstärkt artikuliert. Sie zielt auf eine Aufwertung der Musik gegenüber den Inszenierungen. Während Regisseure oft spektakuläre Neudeutungen vornehmen, bieten Musiker meist nur handwerkliche Akkuratesse, gepaart mit Klangschönheit. Die ungreifbare Musik, über die zu sprechen so viel schwieriger ist als über die in der Anschaulichkeit angesiedelte Bühne, steht deshalb in der Wahrnehmung oft im Schatten der Regie. Das hängt auch damit zusammen, dass es nicht viele Musiker gibt, die sich souverän und künstlerisch wertvoll gegen die Bilderfluten der Regie durchsetzen können. Petrenko, Thielemann, Barenboim, Pappano gehören zu dieser seltenen Kategorie, die keinen Regisseur zu fürchten brauchen.
Doch im Idealfall ergänzen sich Regie, Dirigent und Sänger, ohne dass eines ihrer Gewerke hintanstehen müsste. Das grandioseste Beispiel für solch ein stimmig gelungenes Gesamtkunstwerk lieferte unlängst der wunderbare Michael Volle als Götterchef Wotan in dem erwähnten Berliner „Ring“. Da beflügelten sich Gesang, Spiel, Orchester und Regie gegenseitig, da war niemand der Anführer, da arbeiteten Volle, Thielemann und Regisseur Dmitri Tcherniakov sicht- und hörbar an einem gemeinsamen Projekt. Jeder Operngänger weiß, dass solche Momente das größte Glück in der Oper bedeuten. Er weiß aber auch, dass solche Momente selten und nicht zu erzwingen sind, auch nicht vom genialsten aller Dirigenten.
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